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Kartellobergericht legte dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen im Rekursverfahren zu Gebietsabsprachen im Vertrieb von Industriezucker vor

Im Kartellverfahren wegen dem Verdacht auf Gebietsabsprachen im Vertrieb von Industriezucker hat das Oberlandesgericht Wien als Kartellgericht mit Beschluss vom 15.5.2019 die Anträge der BWB vom 1.9.2010 in erster Instanz abgewiesen. Die BWB erhob gegen diese Entscheidung Rekurs beim Kartellobergericht im August 2019 und regte in eventu ein Vorabentscheidungsverfahren an.

Die BWB beantragte im Jahr 2010 die Verhängung von Geldbußen bzw. eine Feststellung eines Verstoßes gegen Zuckerhersteller wegen Gebietsabsprachen im Vertrieb von Industriezucker in Österreich. Die Ermittlungen der BWB kamen durch Informationen eines beteiligten Unternehmens ("Kronzeuge") ins Rollen. Die Unternehmen seien übereingekommen, sich gegenseitig in ihren Absatzgebieten nicht durch preisaggressive Angebote zu stören („Heimatmarktprinzip“).

Das deutsche Bundeskartellamt verhängte am 18.2.2014 wegen der Auswirkungen dieser Verhaltensweisen in Deutschland gegen drei große deutschen Zuckerhersteller Geldbußen in Höhe von rund 280 Mio. Euro.

Aufgrund der Entscheidung in Deutschland, wandte das Kartellgericht das territoriale Doppelbestrafungsverbot an und sah von einer Feststellung und Bußgeldverhängung ab.

Nach Ansicht der BWB geht es um das grundsätzliche Verständnis der Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden nach der Verordnung (EG) 1/2003 einerseits, und andererseits, damit verbunden, der Effektivität des Vollzugs des Unionsrechts.

Das Kartellobergericht legte nun folgende Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Union vor (16Ok2/19h)

1. Ist das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne bis in idem“ aufgestellte dritte Kriterium, nämlich dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss, auch dann anzuwenden, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten berufen sind, für den selben Sachverhalt und in Bezug auf die selben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch die selben europäischen Rechtsnormen (hier: Art 101 AEUV) anzuwenden?

Bei Bejahung dieser Frage:

2. Liegt in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vor?

3. Ist es darüber hinaus für die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ von Bedeutung, ob die zeitlich erste Geldbußenentscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach im von ihr geführten wettbewerbsrechtlichen Verfahren entschieden hat?

4. Liegt auch bei einem Verfahren, in dem wegen der Teilnahme eines Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm nur dessen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, ein vom Grundsatz „ne bis in idem“ beherrschtes Verfahren vor, oder kann eine solche bloße Feststellung der Zuwiderhandlung unabhängig vom Ergebnis eines früheren Verfahrens betreffend die Verhängung einer Geldbuße (in einem anderen Mitgliedstaat) erfolgen?

EUGH C 151/20